BNE über den Lehrplan 21 hinaus

Im Hinblick auf eine BNE, die über den Lehrplan 21 hinaus geht, wird der «Apfelring mit Biss» als ein Modell für eine zeitgemässe BNE vorgeschlagen (Wilhelm et al. 2022). Das Modell stellt im Sinne von Raworth (2012) eine ethisch vertretbare, erfolgswahrscheinliche Entwicklung (= viable Entwicklung) ins Zentrum (Abb. 3). Es geht dabei um ein gutes Leben in einer endlichen Welt.

Der Bereich des orangen Kreises zeigt den Bereich, in dem sich die Menschheit bewegen kann, wenn eine ethisch vertretbare Entwicklung angestrebt wird. Wenn wir uns nach innen in den blauen Bereich bewegen, wird dies zu sozio-ökonomischen Defiziten führen, z.B. weniger Lohn oder ein schlechteres Gesundheitssystem. Bewegen wir uns nach aussen in den grünen Bereich, sehen wir uns mit einer planetaren Überlastung konfrontiert, z.B. nimmt die Klimaveränderung zu oder ist ein weiterer Verlust der Biodiversität zu beklagen. Sowohl im Bereich der planetaren Überbelastung wie auch im Bereich der sozio-ökonomischen Entbehrungen befinden sich sog. Kipppunkte. Wenn ein solcher Kipppunkt überschritten ist – bei der Klimaerhitzung vermutet man diesen bei einer Zunahme gegenüber von heute um 2 °C –, dann ist der Veränderungsprozess nicht mehr aufzuhalten. Unterhalb dieser Kippunkte sind Veränderungen der Umweltsysteme reversibel. Doch wo genau diese Kipppunkte sind, ist noch nicht mit Sicherheit vorherzusagen, weil die verschiedenen Umweltsysteme auch miteinander interagieren: So wirkt sich die Klimaerhitzung auf den Verlust der Biodiversität aus und umgekehrt. Entscheidend ist aber, dass die planetaren Grenzen absolute Grenzen sind, weil sie auf Naturgesetzten basieren. Das gilt – und das ist der bedeutende Unterschied – für die sozioökomischen Defizite nicht. Zwar gibt es auch hier das Prinzip der Kipppunkte. So sind zwar massive gesellschaftliche Verwerfungen zu erwarten, wenn Bildungssysteme, Gesundheitssysteme oder politische Teilhabe nur noch marginal funktionieren, doch gibt es in den aller meisten Fällen keine unverrückbaren, sondern bewegliche, also volatile Grenzen, denn die sozio-ökonomischen Grenzen sind nicht durch Naturgesetzte bestimmt, sondern vom Grundsatz her und in aller Regel verhandelbar.

Abbildung 3: BNE-Modell «Apfelring mit Biss», in Anlehnung an Raworth (2012) und Wilhelm et al. (2022).

Diese grundlegend unterschiedliche Begrenzung der viablen Entwicklung unseres Handelns bzw. unseres Verhaltens, also des guten Lebens für alle in einer begrenzten Welt, wird im originalen Modell der Donut-Ökonomie von Raworth (2012) nicht berücksichtig. Ebenso wird darin nicht auf die Endlichkeit gewisser Ressourcen eingegangen. Wird auch diese Beschränkung unseres Handelns in das Modell aufgenommen, zeigt sich, dass der orange Bereich der viablen Entwicklung zurzeit immer kleiner wird, dargestellt in Form eines Bisses in den Apfelring. Erschöpfliche Ressourcen[1] und damit die irreversible Ressourcennutzung schränken das gegenwärtige und insbesondere das zukünftige Handeln der Menschen ein (Glöser et al., 2015; Graedel et al., 2015). Beispiele sind verbrannte Kohlenwasserstoffe oder begrenzte Verfügbarkeit vieler Seltener Erden.

Die ethisch vertretbare Entwicklung ist abhängig von komplexen Wechselwirkungen, die nicht vollständig regelbar, sondern nur iterativ beinflussbar sind. Der menschgemachte Klimawandel kann beispielsweise nicht mit einer einzelnen Massnahme verhindert werden, vielmehr geht es um ein schrittweises Annähern an das Klimaziel mittels machbarer Umsetzungen, deren Wirkung und Nebenwirkung in den nächsten Schritt der Annäherung einfliessen muss. Sie befindet sich zudem im Spannungsfeld konträrer Ansprüche (z.B. SDG 8 vs. SDG 13). Solche sich widersprechenden, also kontroversen Gesellschafts-Umwelt-Beziehungen sind nicht auflösbar. Aber sie können gegenseitig abgewogen werden, mit der Erkenntnis die Ansprüche allenfalls anzupassen. All dies kennen wir z.B. für das komplexe System Mensch. Wenn eine kranke Person Medikamente einnimmt, führt dies zusätzlich zur erhofften Wirkung immer auch zu Nebenwirkungen (nicht regelbare Komplexität des Menschen). Die Person könnte in ihrer Entscheidung folglich vor dem konträren Anspruch stehen: Sie bleibt krank oder sie wird gesund, muss dann aber Nebenwirkungen akzeptieren.


 

[1] Natürliche Ressource, die sich in dem für die menschliche Planung relevanten Zeitraum (innert Jahrhunderten oder Jahrtausenden) regenerieren, gelten als erneuerbar. Erschöpfliche Ressourcen regenerieren sich nicht in solchen Zeiträumen.